It's my life - oder: Ein Kind der 90er erzählt


Ich bin ein Kind der Neunziger. Voll und ganz. Diesen Teil meiner Biografie möchte ich auf gar keinen Fall missen oder gegen eine Ipad-Internet-Wii-Kindheit der heutigen Zeit eintauschen. Wenn ich an meine Kindheit denke, schießt mir sofort eine Bildmontage aus Tamagotchis, bunten Leggins, Polly Pocket, Pixibüchern, Garfield-Bettwäsche und Frufoos durch den Kopf, dann wackelt ein kleiner blauer Pudel durchs Bild, der auf Knopfdruck ein bellähnliches Geräusch und einen Überschlag macht, im Hintergrund klackt ein Joystick und ein Medley aus Mr. Vain, Mysterious Girl und "ski-ba-bop-ba-dop-bop, ba-bop-ba-dop-bop... I'm a Scatman" erklingt - Der Soundtrack der 90er.

Im Sommer war es immer heiß. Passend dazu gab es den alljährlichen Sommerhit mit leicht erlernbarer Choreografie, die ich nach einmaliger Sichtung des Musikvideos drauf hatte. Allgemein bewegte ich mich in den früheren Neunzigern hauptsächlich hüpfend und rennend fort.
Weihnachten lag immer Schnee. Wenn das Glöckchen läutete, gab es Geschenke, die ich im Froschsitz unterm Weihnachtsbaum auspackte. Meistens befreite ich Dinosaurier, Kuscheltiere oder Barbiezubehör vom feierlich gemusterten Geschenkpapier, was wie bei den Hoppenstedts zunächst im Flur zwischengelagert wurde. Und dann machten wir es uns gemütlich.

Warum fand man eigentlich diese hässlichen, nackten Trolle mit dem bunten Filzhaar so toll? Konnten die irgendwas? Ich hatte circa 6 davon, einen sogar mit einem coolen, grünen Diamanten im Bauchnabel. Von kleinen Ponys besaß ich mindestens doppelt so viele. Die konnte man immer so schön frisieren mit ihren winzigen Bürstchen, die im Lieferumfang enthalten und somit vielfach im Kinderzimmer vertreten waren. Apropos treten, auf diese Weise fand man verloren geglaubte Mini-Bürsten meistens wieder. Bei einer meiner Barbies ging ein Frisierversuch mächtig daneben. Das lag hauptsächlich daran, dass auch eine Schere mit im Spiel war. Nach mehreren Korrekturversuchen blieb nur noch eine Kurzhaarfrisur übrig und diese Barbie trat von nun an nur noch als Oma in Erscheinung.

Neben dem Trendspielzeug Spirograph, dem obligatorischen Slime (was einige Fettflecken an der Wand hinterlassen hat), den süßen Wauzis, dem coolen Skip-it aus der Werbung (hier ist ein lustiges und interessantes Video dazu) und der Regenbogen-Springspirale (die, glaube ich, jeder hatte), besaß ich auch ein weißes Plastik-Pferd mit lila Mähne, in dessen Sattel sich ein Schließfach befand, welches sich, nebenbei bemerkt, auch mühelos mit einem Bleistift öffnen ließ. Zum Glück, denn irgendwann war der Schlüssel nicht mehr auffindbar. Auch nicht auf die schmerzhafte Art unter dem nackten Fuß. Erst jetzt habe ich durch googlen herausgefunden, dass diese Dinger "Keypers" hießen, ein lang unentdecktes Wortspiel.

Kuscheltiere mochte ich besonders gern, was meine 5 Jahre ältere Schwester sicherlich bestätigen kann, habe ich doch allabendlich vor dem Einschlafen im gemeinsamen Kinderzimmer jedem Einzelnen meiner Kuscheltiere persönlich einen Gute-Nacht-Kuss gegeben. Ich hatte halt eine sehr enge Bindung zu den circa 100 Tierchen, zumal ich jedes mit einem individuellen Namen und einem Geburtstag versehen hatte. Diese Geburtstage waren nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und nicht identisch mit dem Tag, an dem ich sie bekommen hatte. Ansonsten wären viele Ehrentage auf meinen eigenen Geburtstag oder Weihnachten gefallen. Um mir die vielen beliebigen Daten merken zu können, bastelte ich einen Geburtstagskalender, damit ja keiner vergessen wurde und die Geburtstage der liebsten Kuschelfreude auch mal so richtig gefeiert werden konnten.

Als Revanche für mein abendliches Geplapper, konnte sich meine Schwester meinen kindlichen Bewegungsdrang zu Nutze machen, wenn sie beispielsweise an gemeinsamen Fernsehnachmittagen Durst bekam. Mit einem "Ich zähl auch die Zeit" hatte sie mich schnell überredet und ich flitzte in Küche, um ihr einen Eistee oder Saft einzugießen. Wenn ich mit der Bestellung zurückkam, honorierte sie mich mit unrealistischen Stoppzeiten, die mich wahrscheinlich nur für die nächste Order anspornen sollten. Was soll ich sagen? Es funktionierte. Und wir verbrachten viel Zeit vor dem Fernsehgerät. Zumindest kann ich mir nur so diese Masse an Fernseherinnerungen erklären, die ich mit den 90ern verbinde. Oder das Alter zwischen 4 und 15 ist eine besonders prägende Phase, in der man alle visuellen und auditiven Eindrücke aufsaugt wie ein Schwamm. Um mich selbst zu beruhigen und die Erziehung meiner Eltern nicht in Frage zu stellen, nehme ich mal an, dass sich dieser präsente Nachhall unzähliger 90er-Jahre-Bewegtbilder zu einem gigantischen Erinnerungsknäuel zusammengefügt hat, es sich aber in Wirklichkeit um eine ganze Dekade Fernseh- und Filmgeschichte handelt, aus der ich nur das Beste herausgefiltert habe. Und das Beste war viiiiel.

Als Grundschulkind war ich am Wochenende meist schon gegen 6 Uhr putzmunter: Was also tun, als meine Mutter artig flüsternd mit einer Frage zu wecken: "Darf ich fernsehen?" Meistens wurde mir ein "Ja" entgegengemurmelt und so verbrachte ich die frühen Morgenstunden mit Pumuckl, der Gummibärenbande, Chip, Chip, Chip, Chip&Chap und einer Schüssel Smacks auf dem Schoß. Am Nachmittag ließ ich mich gerne von Bim Bam Bino oder dem Li-La-Laune-Bären durchs Programm führen und ein paar Jahre später war ich am liebsten bei den unzähligen Fernsehfamilien zu Gast, deren Introsongs die besten Ohrwürmer hervorbrachten.

Abends gab es dann Erwachsenenfernsehen, wie zum Beispiel "Die Knoff-Hoff-Show", bei der ich erst viel später den Wortwitz verstand, brachte uns Joachim Bublath in seinem erklärenden Singsang doch wissenschaftliches "Know How" näher. Alle zwei Monate kam das Highlight: "Wetten Dass..?" Das durfte ich gucken, bis ich auf der Couch einschlief. Das war nicht nur als Kind eine Herausforderung, gab es doch kaum eine Sendung, die Gottschalk nicht überzog. Meistens fand ich mich am nächsten Tag wie von Zauberhand in meinem Bett wieder und konnte mich nicht mehr an den Wettkönig des Abends erinnern.

Mein Musikgeschmack war anfänglich sehr von meinen Eltern geprägt, weswegen die Erinnerungen meiner Vorschulzeit mit den Songs von Eric Clapton oder Paul McCartney unterlegt ist. Ich erinnere mich an einen Familienausflug zum neueröffneten "WOM - World of Music", in dem meine Schwester und ich uns jeweils ein Album aussuchen durften. Ich entschied mich mit meinen 7 Jahren tatsächlich für das gerade erschienene Album "Back to Front" von Lionel Richie, was ich anschließend rauf- und runterhörte. Die damals aktuelle Single "My Destiny" (oder für mich: Lied Nummer 2) ist noch heute eines meiner Lieblingslieder, nicht zuletzt aufgrund der vielen Kindheitserinnerungen, die ich damit verbinde.

Nach einer Michael Jackson-Phase, die durch das bahnbrechende "Black or White"-Video gänzlich ausbrach und sich auch stark in der Wandgestaltung meines Kinderzimmers widerspiegelte, öffnete ich meinen musikalischen Horizont auch weiteren Bands und Sängern. Mit Hilfe des BRAVO-Abos war bald die gesamte deutsche TopTen an meinen Zimmerwänden ausgestellt. Nachdem ich mein Taschengeld zuvor gegen bunte Schnüre und Sticker eingetauscht hatte, gab ich es in meinem nun zweistelligen Alter hauptsächlich für Maxi-CDs aus. Wenn man sich meine CD-Sammlung anschaut, die heute gestapelt im Wohnzimmerschrank lagert, würde man nicht unbedingt denken, dass sie von einer einzigen Person stammt. Neben dem Superhit "MMM Bop" tummeln sich auch Singles von The Offspring, Blümchen, Puff Daddy oder auch Ace of Base. Zu all den Liedern der 90er habe ich sofort die dazugehörigen Musikvideos vor Augen. Das sind kurze Videoclips, in denen Bands ihre Songs bildlich umsetzen und für die damals im Fernsehen noch Sendeminuten zur Verfügung standen. "Caught in the Act" veranschaulichten ihr musikalisches Anliegen, indem sie mit eingeölten Oberkörpern tanzend in die Ferne schweiften (#sepiafilter), Mark Owen watete traurig durch den Kunstschnee, Angelo Kelly kam mit seinen großen Zähnen und zwei ausgestreckten Fingern auf die Kamera zu, Whigfield zwirbelte vorm Spiegel Zöpfe und Alicia Silverstone stürzte mit einem Bungee-Seil am Bauchnabel-Piercing von einer Brücke und zeigte mir den Stinkefinger. Heute dienen diese kleinen Filmwerke hervorragend als Zeugnis des unfassbar schlechten Modegeschmacks der 90er und dennoch wollte man genau diese rote Jeansweste, genau die Plateauschuhe und genau die neongrüne Flauschjack auch haben.

Alle halbe Jahre erreichte seeeehr schwere Post unser Haus. Der OTTO-Katalog war da! Ich liebte es, mich mit dem dicken Wälzer auf die Couch zu setzen und genüsslich jede Seite durchzublättern, mit großer Vorfreude auf die Abschnitte mit der Kinderkleidung oder später auch der "jungen Mode", die mir in kleinster Größe auch schon passte. Am Abend ging ich mit meiner Mutter die Seiten mit den umgeknickten Ecken nochmal durch. Hier wurde entschieden, welches der Teile wirklich bestellt werden sollte. Das machte man damals noch übers Telefon. Gespannt und aufgeregt lauschte ich dem Gespräch, was auf Seiten meiner Mutter nur aus einer Aneinanderreihung von Zahlen und Buchstaben bestand und mit der überaus wichtigen Information der Lieferzeiten beantwortet wurde.  Ich erinnere mich noch sehr gut an ein orange-blaues Adidas-Shirt in Fleecestoff mit Kapuze. Das war sofort lieferbar, ich behielt es auch und hatte es bestimmt ganze 3-mal an. So ein Fleecestoff mit Kapuze machte sich im Hochsommer irgendwie doch nicht so gut. 

Anfang der Neunziger bestand mein Kleiderschrank nur aus engen Stoffhosen, die je nach Jahreszeit, von der Radlerhose im Sommer über die Caprihose bis zur Leggins, immer länger wurden. Dazu trug ich selbstgestrickte, fast knielange Pullover in allen Farben, in denen Oma Wolle hatte. Eigentlich genau der Style, der gerade erst wieder in war und jetzt auch schon wieder out ist. Im Winter zog ich über die Wollstrumpfhose mit Zwickel hauptsächlich Hosen in Karottenform, manche mit Latz, manche aus Cord. Während ich meine Haare entweder mit einem Haarreif oder dicken Haargummis (in allen Farben, in denen Oma Stoff hatte) zusammenhielt, hatten manche Jungen eine ganz ungewöhnliche Vorliebe ihre Haare zu styl....nein, welches Wort passt da? - zu verunstalten. Auch heute gibt es noch Eltern, die ihren Söhnen beim Haare schneiden den Nacken nicht komplett kürzen, sondern ein kleines Schwänzchen stehen lassen, was bei eiserner Konsequenz zu einem richtig langen, gekringelten Rattenschwanz gedeihen konnte. Wir nannten diese light-Form des Vokuhilas bezeichnenderweise "Arschlochschwanz". Macht bitte nicht naiverweise den Fehler und googelt diesen Begriff in der Hoffnung ein Bild dieser Frisur zu finden. Nein. Ihr findet genau das, was ihr eingetippt habt.

Hex, Hex, Pling, Pling. Mit dem Millenium waren die 90er Jahre beendet und mit den 2000ern starteten meine Teenager-Jahre so richtig durch. Eine spannende Zeit begann, die ebenso Assoziationen in meinem Kopf und Musik in meinen Ohren hervorruft, allerdings verbunden mit einem ganz anderen Flair. Jede Dekade beschreibt eine Ära, in der mein Leben viele Veränderungen mit sich brachte und glücklicherweise gibt es Musik, Filme, Fernsehserien oder auch ganz banale Gegenstände, die uns für einen Augenblick eine Zeitreise gewähren und uns in Erinnerungen schwelgen lassen. Ich bin schon sehr gespannt, was mich in 30 Jahren zurück in die jetzige Zeit teleportieren wird.

1 Kommentar :

  1. Hey Leni,

    hier grüßt dich auch ein Kind der 90er, ich bin 31 und erinnere mich genauso gern an die Sachen, von denen du geschrieben hast:D Auch jetzt höre ich noch 80/90er bei Spotify, weil ich die Musik von heute nicht ertragen kann.
    Es ist schon unheimlich, dass man nun selbst einer von den "anderen, älteren" geworden ist;) Liebe Grüße an Dich, sendet Richard aus Hamburg:)

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