Dirty Thirty - oder: Wo ist nur die Zeit geblieben?


Ich sitze allein auf dem Bett im dunklen Schlafzimmer. Mein Radiowecker auf dem Nachttisch zeigt kurz nach Mitternacht. Vielleicht geht die Uhr nicht ganz richtig oder da draußen läuft irgendwas nicht nach Plan. Ich lege mich hin, starre an die Decke und frage mich, ob ich bereit für das bin, was gleich passieren wird. Ehe ich mir antworten kann, öffnet sich die Tür. Eine Hand hilft mir hoch und hält mir die Augen zu. Obwohl ich meine Wohnung sehr gut kenne und ich geführt werde, suchen meine Hände Wände zum Festhalten und Langhangeln. Nach wenigen unbeholfenen Schritten bin ich im Wohnzimmer angekommen und darf jetzt auch wieder gucken. Viele kleine Kerzen stecken in einem Kuchen aus doppelter Schokolade, strahlen mich an und wollen ausgepustet werden, bevor sie ihr Fundament besudeln. Ehe ich mir was wünschen kann, singt mein Mann noch sein Ständchen zu Ende und wünscht ihn mir dann: Einen schönen 30. Geburtstag! 

Dreißig.


Eigentlich ist es doch ein ganz normaler Geburtstag, wie jeder andere auch. Außer, dass man bei diesem Geburtstag besonders oft an das erreichte Alter erinnert wird, sei es durch extra große und besonders hübsch verzierte Dreien und Nullen auf den Glückwunschkarten oder auch in Form einer Brille in Dreißigform, die einem auf der Party aufgesetzt wird. Damit wurde es mir besonders leicht gemacht, die Welt durch die Augen einer Dreißigjährigen zu sehen und die gänzlich gegensätzliche Zeit der Zwanziger hinter mir zu lassen. 

Ich bin jetzt in dem Alter - ob ich mir das gerade selbst so definiere oder andere Thirtysomethings das genauso sehen, sei mal dahingestellt - jedenfalls bin ich für meinen Teil in einem Alter, in dem ich immer noch jugendlich verrückt eine Schüssel Nesquik-Cornflakes zum Mittag essen kann, während ich mir ächzend von einer Massagematte die verspannten Schultern durchkneten lasse und parallel halbwegs professionell meiner Arbeit am Computer nachgehe. Ich stecke im Jahrzehnt zwischen den zwanglosen Zwanzigern und den verantwortungsvollen Vierzigern, um es mal schwiegermuttergesucht-esque auszudrücken. Eine Dekade, die mir gefallen könnte. The best of both worlds. In zehn Jahren mag ich darüber anders denken und beginne womöglich von den frivolen Fünfzigern zu philosophieren. 

"Wo ist nur die Zeit geblieben?" 


...könnte man jetzt rhetorisch fragen, dazu lächelnd nicken und den Blick in die Ferne schweifen lassen. Klar war der Abiball gefühlt irgendwie gerade erst, aber irgendwie bin ich in der Zwischenzeit auch vier Mal umgezogen, habe ein Studium abgeschlossen, hatte mehrere Arbeitgeber, habe sogar kurzzeitig in den USA gelebt, dort einen Mann kennengelernt und den auch gleich weggeheiratet. Ich habe Heerscharen neuer Menschen kennengelernt, zahllose Gespräche geführt, massenhaft Erfahrungen gemacht und aus etlichen Fehlern gelernt. Eigentlich erstaunlich, dass ich das alles so schnell geschafft habe.

Aber manche Dinge brauchen halt seine Zeit. Zeit im Kopf zu einer guten Idee heranzureifen. Zeit diese Idee dann umzusetzen und zu merken, dass es eine gute war. Dass ich heute gern Rotwein trinke, hat um und bei 29 Jahre und eine Reise nach Frankreich gedauert. Meinem 20-jährigen Ich den Tipp zu geben, doch schon früher mal einen Old Amsterdam mit Feigensenf zu kombinieren, um ihn dann auf der Zunge zergehen zu lassen und diese Köstlichkeit mit einem kräftigen Montepulciano d'Abruzzo abzurunden, wäre bei diesem alkoholabstinenten Starrkopf, der ich war, auf taube Ohren gestoßen. Von einem anderen Brillenmodell hätte ich mich da wahrscheinlich eher überzeugen können. (Rahmenlose Brillen sind immer noch Brillen und nicht unsichtbar.)

Was mir grob wichtig war, wusste ich jedoch auch damals schon. Ganz bescheiden und frei von Superlativen antwortete ich im Abibuch auf die Frage, wie mein Leben in 10 Jahren aussieht: "Ich lebe mit meiner kleinen Familie in einer schönen Wohnung und habe eine gute Arbeit, die mir Spaß macht." Mal abgesehen davon das mein 20-jähriges Ich da eine ganz andere Familie vor Augen hatte, die Wohnung höchstwahrscheinlich sogar in einer anderen Stadt angesiedelt hätte und beim Job nicht mal im Entferntesten meinen heutigen hätte erraten können, habe ich mit dieser vagen Umschreibung meines Wunsches dennoch ins Schwarze getroffen.

Wenn ich mir all das vor Augen führe, bin ich ganz froh, dass ich endlich 30 bin und damit das, was die Zeit bis hier hin aus mir gemacht hat.





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