I Can Hear You - oder: Anonym in Berlin



Was ist denn jetzt schon wieder? Hat es vielleicht Hunger? Oder schon wieder die Windeln voll? Es schreit und plärrt und quäkt und ich bin völlig überfragt. Und auch wenn ich wüsste, was zu tun ist, ich kann und werde nichts gegen das Brüllen des Babys ausrichten können. Ich bin schließlich nur die Nachbarin auf der anderen Seite einer scheinbar doch sehr dünnen Wand. Alles was ich tun kann, ist die Musik lauter zu drehen. 

Seit dreieinhalb Jahren wohne ich in meiner jetzigen Wohnung in einem 9-Parteienhaus. Gleich an meinem ersten Tag performte der Nachbar von unten den obligatorischen Besen-Decke-Gruß und hieß mich herzlich Willkommen, während ich versuchte meinen neu erstandenen Badezimmerschrank zusammen zu bauen. Vielleicht grüß ich demnächst mal zurück, sobald die Birke, die aus seinem Blumenkasten wächst, meinen Balkon erreicht hat. Lange kann es nicht mehr dauern. 


Ich höre was, was ich nicht seh


Die Wohnung ist sehr hellhörig, war das also schon mal direkt von Anfang an geklärt. Ohne es unbedingt zu wollen, hat sich dank der verschiedenartigen Geräusche, die durch die Wand zu mir dringen, in meinem Kopf ein ungefähres Bild der Wohnzimmerwand-Nachbarsfamilie formen können. Seit circa zweieinhalb Jahren besitzt das vermutlich junge Paar einen Hund, den sie anfangs oft alleine lassen mussten. Seinem endlosen Jaulen nach zu urteilen schien ihm das weniger gut zu gefallen. Nach einer hartnäckigen Erkältung im letzten Winter, bei der ich mich schon fast zusammenreißen musste, nicht doch mal ein „Gesundheit!“ durch die Wand zu rufen, entschieden die beiden wohl den nächsten großen Schritt zu gehen und eine Familie zu gründen. Vor zwei Monaten trat nun das kleine, süße Schrei-Baby in unser Leben. Den Hund hört man nur noch selten bellen, wahrscheinlich weil Dank des Babys jetzt immer jemand zu Hause ist.  

Genauso, wie ich sie höre, hören sie sicherlich auch mich und mokieren sich abends auf dem Sofa: „Jetzt tippt die wieder so laut.“ Die können froh sein, dass sie Anfang des Jahres nicht Ohrenzeuge meiner neverending Bronchitis werden mussten. Die war einzig den Schlafzimmerwand-Nachbarn vorbehalten. Um der Dicke der Wände bewusst, schlich sich bei mir nach einer Woche Dauerhusten langsam ein schlechtes Gewissen ein. Die Nachbarn waren mit Sicherheit ähnlich erfreut wie ich, als mein Husten sich allmählich lockerte und langsam abklang. Naja, jetzt sind wir quitt. Ich bin schließlich auch schon des Öfteren durch das Klingeln ihres Nachtschicht-Weckers aufgewacht. Und das wäre nicht mal das Schlimmste. Schlafzimmerwand-Nachbarn sind nochmal eine ganz andere Liga. 

Wie gesagt, wir sind quitt.

Anonym in Berlin

 

Ich wuchs in einer Kleinstadt auf. In meiner Kindheit kannte ich die Anwohner der ganzen Straße beim Namen. In Berlin lebt man anonym. Und eigentlich bin ich ganz froh darüber, dass ich nicht weiß, wer hinter dem wandgefilterten Niesen, Quäken und Stöhnen steckt. Ich bin froh, dass ich keinen aufgesetzten Smalltalk halten muss, wenn ich ein beim Nachbarn abgegebenes Paket abhole. Ich bin froh, dass ich nicht immer wieder dem Nachbarn von gegenüber winken muss, nur weil wir uns irgendwie kennen. Weil wir in derselben Straßen wohnen. Weil wir uns oft sehen. 

So ein Kandidat wäre zum Beispiel der Mann von gegenüber oder wie ich ihn nenne: Der Mann im orangenen Pullover. Mehrmals am Tag geht er auf den Balkon, um zu rauchen. Dabei zieht er jedes Mal seinen wohl extra dafür vorgesehenen, orangenen Rauch-Pullover an. Wenn ich die Wäsche aufhänge, die Rollläden runter lasse oder einfach nur mal Luft schnappen will - er ist da. Man kann schon behaupten, wir sehen uns täglich und dennoch bezweifle ich, dass ich ihn, zufällig beim Einkaufen getroffen, erkennen würde. Es sei denn er trägt einen orangenen Pullover und einen Balkon vor sich her. 

Same Same, but...Same


Während ich meinen Hitchcock'schen Blick über die Nachbarn von gegenüber streifen ließ, ist mir vor einiger Zeit etwas Interessantes aufgefallen. Zum einen, dass viele Menschen heutzutage auf Vorhänge oder Gardinen verzichten. Zum anderen, dass die Nachbarn von gegenüber einen sehr ähnlichen Einrichtungsgeschmack haben. Besonders abends kann man gut erkennen, dass das junge Paar von ganz oben und das wahrscheinlich ebenso junge Paar aus der Etage darunter, exakt das gleiche Bild an exakt derselben Stelle hängen haben. Nicht nur ein Bild. Es ist Das. Gleiche. Bild. Man könnte meinen, dass sei ein unheimlich großer Zufall. Andere sagen, es ist Schicksal. Oder das Shining?! Aber ehrlich gesagt, nein. 

Es ist Ikea.






0 Kommentare :

Powered by Blogger.